Kolumne vom Oktober 2011
Alvaro ist nach einem langen Tag auf dem Weg nach Hause. Er wohnt seit seiner Einwanderung aus Portugal in der Agglomeration Zürich. Seine Frau Isabel ist ebenfalls Portugiesin und arbeitet als Pflegefachfrau in einem grossen Spital der Stadt. Eigentlich ist Alvaro mit seinem und dem Leben seiner Familie zufrieden. Die Politik hat ihn immer wenig interessiert, deshalb fand er es auch nie notwendig sich in der Schweiz einbürgern zu lassen. Seine Leidenschaft gilt dem Fussball, dem FC Zürich. Die Besuche im Stadion machen ihm im Moment wenig Spass, die Leistungen überzeugen selten und die Tatsache, dass die Herren der Cüplietage für die lebensgefährlichen Situationen auf der Tribüne nur leere Worthülsen haben, ärgert ihn. Heute Abend stinkt ihm eine andere Sache sehr viel mehr.
Alvaro liebt seinen Beruf, als gelernter Maurer arbeitet er auf der Baustelle für die neue "Unterführung Gessnerallee" im Hauptbahnhof Zürich und da stinkt es gewaltig. Seit Wochen verrichten er und seine Kollegen ihre schwere Arbeit unter schwierigen Umständen. Das stört ihn wenig, sie fordern ihn in seiner Berufsehre und irgendwann wird er stolz durch die Unterführung laufen im Wissen, dass die Unterführung ohne Leute wie ihn nicht gebaut worden wäre. Was sein Gemüt aber wirklich in Wallung bringt, sind die unzumutbaren Zustände auf der Baustelle. Seit Wochen tropfen Fäkalien und Schmutzwasser aus den Zügen auf die Helme der Arbeiter, dieser menschenunwürdige Zustand erfüllt Alvaro mit heiligem Zorn. Wie kann es passieren, dass niemand bei der ganzen Planung an so etwas gedacht hat, wie kann es passieren, dass die Baustelle nach den ersten Vorkommnissen zwar an exponierten Stellen mit Plexiglas verkleidet, die ganze Sauerei aber nicht grundlegend gelöst wurde, bevor wieder Arbeiter auf die Baustelle geschickt werden. Warum zieht SBB Chef Andreas Meyer nicht einmal einen Helm über und schaut sich die Sache vor Ort an? Alvaro ist froh, gibt es Gewerkschaften, die in solchen Situationen handeln und mit ihm und seinen Kollegen Massnahmen fordern und mit einem Streik durchsetzen. Verbesserungen sind angekündigt, Gewerkschaften und Medien sind in diesem Fall ein Garant, dass diese auch umgesetzt werden. Das geht Alvaro heute auf dem Heimweg von einem Streiktag in der Bahnhofshalle durch den Kopf. Er ist müde und traurig, dass so etwas in der Schweiz vorkommen kann. Unvermittelt schaut er auf und sieht ein grosses Plakat mit schwarzen Schuhen, riesig über eine ganze Plakatwand "Masseneinwanderung stoppen" wird er darauf aufmerksam gemacht, dass er eigentlich in der Schweiz gar nicht willkommen ist. Alvaro ist heute nicht wohl in seiner Haut und er macht sich Sorgen um die Zukunft seiner Kinder. Wie ernst muss man so ein Plakat nehmen, wird es dazu kommen, dass eine Mehrheit in diesem von Tourismus und Export lebenden Land so viel Menschenverachtung unterstützt oder spielt hier eine Partei einfach mit dem Feuer im Wissen, dass die gemässigten Stimmen im Bundeshaus auch nach den Wahlen in der Mehrzahl sind und das Schlimme zu verhindern wissen?
Mit diesem klammen Gefühl kehrt Alvaro nach Hause. Daheim erwartet ihn Isabel, obwohl sie den ganzen Tag im Spital auf den Beinen war, lässt sie es sich nicht nehmen jeden Tag eine vollwertige Mahlzeit auf den Tisch zu zaubern. Wenige Minuten nach Alvaro kommt auch Tochter Cristiana zur Türe rein, sie hat in der Tagesschule unter fachkundiger Betreuung die Aufgaben erledigt und freut sich jetzt auf den Familienabend.
Beim Nachtessen unterhält sich die Familie über Streitereien in der Schule, beliebte und unbeliebte Lehrkräfte aber auch über die Zustände auf der Baustelle "Gessnerallee". Isabel klagt über weitere Sparmassnahmen zulasten des Pflegepersonals und wie verzweifelt sie und ihre Kolleginnen versuchen zu verhindern, dass der Patient etwas davon merkt. Über die Plakate spricht niemand, Alvaro hofft, dass sich eine vernünftige Schweiz bewusst ist, wie wichtig und wertvoll solche Menschen für unser Land sind.